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"Die Hektik hat zugenommen"

Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bringt im Interview mit dem BIBER-Blickpunkt aktuelle Entwicklungen im Erzieherberuf auf den Punkt.

In den vergangenen 20 Jahren ist die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher viel komplexer geworden. "Gleichzeitig haben sich Rahmenbedingungen deutlich verschlechtert", so Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Er hat von 1983 bis 1993 eine Kindertagesstätte in Berlin geleitet und ist heute im GEW-Vorstand für "Jugendhilfe und Sozialarbeit" zuständig.

BIBER: Sie haben früher selbst als Erzieher gearbeitet. Wie hat sich der Beruf seitdem geändert?

Norbert Hocke: Die Arbeit ist viel komplexer geworden, weil sich die Lebenslagen der Familien sehr verändert haben: Die Unterschiede zwischen den Kindern haben zugenommen, die materielle Situation der Familien ist schwieriger geworden und in den Einrichtungen sind viel mehr Kinder mit Migrationshintergrund, die deutliche Unterstützung bräuchten. Das ist meines Erachtens – schon im Kindergarten – die größte Schwachstelle unseres Bildungssystems, dass ein tragfähiges Konzept zur Integration fehlt. Es werden immer nur Modelle erprobt – und dann zur Seite gepackt, weil sie zu teuer sind. Auch durch die Umsetzung der Bildungspläne ist die Aufgabe im Bildungsbereich viel umfassender geworden. Gleichzeitig sind die Rahmenbedingungen schlechter geworden. Eine Auswirkung ist, dass die Arbeit viel hektischer geworden ist, denn trotz gestiegener Anforderungen ist die Zeitspanne, die für die Kinder zur Verfügung steht, gleich geblieben.

BIBER: Was denken Sie, sind die größten Herausforderungen für Erzieherinnen und Erzieher?

Norbert Hocke: Die Kita-Pädagogik hat sich spätestens seit der Pisa-Studie völlig verändert, jeder will sagen wo's langgeht: Eltern, Fachleute, Politikerinnen und Politiker. Ich sehe es vor allem sehr kritisch, dass die traditionelle schulische Bildung verstärkt in die Kitas reingetragen wird. Den Kern der Kindergartenpädagogik machen insbesondere auch Betreuung und Erziehung aus – und nicht nur Bildung wie in der traditionellen Schule. Und Bildung braucht Muße. Aber heute muss jeder Waldspaziergang eine naturwissenschaftliche Exkursion sein und jeder Gummibär erstmal drei Tage im Reagenzglas leiden, bevor er verspeist wird. Sich von diesem traditionellen Bildungsbegriff nicht überrumpeln zu lassen, ist eine große Herausforderung für Erzieherinnen und Erzieher. Früher gab es vielleicht zu häufig Freispiel. Aber sich nur noch an den sechs Lernbereichen (Sprache, Gesundheit, Bewegung, Musisch-Kreativ, Naturwissenschaft, Werte) zu orientieren und das am besten jeden Tag, ist auch nicht das, was Kinder brauchen.

BIBER: Man hört immer wieder, Erzieherinnen und Erzieher seien auf zusätzliche Nebenjobs angewiesen. Gibt es dazu Zahlen?

Norbert Hocke: Wir haben dazu keine Zahlen. Aber etwa die Hälfte der Erzieherinnen und Erzieher arbeiten Teilzeit und eine halbe Stelle bedeutet einen Nettoverdienst von 1.300 Euro. Diejenigen, die ab 2005 eingestellt wurden, verdienen sogar nur 900 Euro netto. Allein daraus kann man schließen, dass oft ein zweiter Job notwendig ist. Wir merken das auch auf Fortbildungen, wenn es um das Thema Armut geht: Die Teilnehmenden wirken häufig so betroffen, da geht es nicht nur um Kinder in der Gruppe, sondern auch um die eigene Biografie.

BIBER: Wissen Sie, ob "Burn-out" unter Erzieherinnen und Erzieher weit verbreitet ist?

Norbert Hocke: Zumindest lassen viele Indikatoren darauf schließen: Der Krankenstand unter Erzieherinnen und Erziehern ist sehr hoch, vergleichbar mit dem Krankenstand unter Feuerwehrleuten. 65 Prozent der Erzieherinnen und Erzieher leiden unter Lärmbelastung – in anderen Berufen sind es nur 23 Prozent – und nur 13 Prozent sagen, dass sie während oder unmittelbar nach der Arbeit keine gesundheitlichen Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Erschöpfung empfinden.

BIBER: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Arbeitsbedingungen und Qualität der Betreuungsangebote?

Norbert Hocke: Wir müssen erstaunlicherweise immer noch feststellen, dass die Qualität unter den enormen Arbeitsbelastung oft nicht wirklich leidet. So haben die Einrichtungen beispielsweise die Bildungspläne unter den bestehenden Umständen gut und zügig umgesetzt. Das liegt auch daran, dass viele Erzieherinnen und Erzieher bereit sind, in ihrer Freizeit Weiterbildungen zu besuchen. Lange wird dieses Engagement aber nicht anhalten. Die Rahmenbedingungen müssen dringend verbessert werden.

BIBER: Stichwort Akademisierung: Glauben Sie, dadurch könnten sich auch Arbeitsbedingungen und Entlohnung langfristig verbessern?

Norbert Hocke: Der Beruf wird auf jeden Fall attraktiver. Mit einem Studium steigen die beruflichen Perspektiven, aber auch die Zufriedenheit, weil es kein "Sackgassenberuf" bleibt. Es wäre dann auch ein Wechsel in andere pädagogische Bereiche möglich, beispielsweise ins Jugendamt oder die Erwachsenenbildung. Dann würde sich auch nochmals etwas in der Bezahlung ändern. Und: Wenn wir die Hochschulen für dieses Berufsbild öffnen, beginnt die Forschung und damit kann die Praxis arbeiten. Diese Verbindung zwischen Ausbildung, Forschung und Praxis hat ja bislang nicht stattgefunden, da die Ausbildung in Deutschland an beruflichen Schulen stattfindet und die dürfen in unserem System nicht forschen.

BIBER: An welchen Stellschrauben müsste man drehen, damit sich die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern?

Norbert Hocke: Mit der Bezahlung sind wir ja schon ein kleines Stück weiter gekommen. Nun fehlt noch, dass die so genannte "mittelbare pädagogische Arbeitszeit" – also die Vor- und Nachbereitung deutlich erhöht wird, um Bildungsarbeit fundiert umsetzen zu können. Außerdem müssten die Gruppengrößen deutlich nach unten gesetzt werden. Das wäre für die Bildung sinnvoll, weil beispielsweise in einer kleinen Gruppe ein Kind viel öfter angesprochen werden kann und Zeit vorhanden ist in ganzen Sätzen zu antworten. Da könnten wir jede Menge Geld einsparen, das für Sprachstandserhebungen rausgeschmissen wird. Auch die Lärmbelastung ist in kleinen Gruppen geringer. Wir wollen ja nicht die Kinder ändern, die sollen Toben – aber die Gruppengröße ist entscheidend. Und drittens brauchen wir eine Freistellung von Leitungskräften schon ab etwa 60 Kindern sowie mehr Unterstützung durch Fachberatung in den Kitas.

BIBER: Viele Erzieherinnen und Erzieher zeigen – trotz schlechter Bezahlung – ein unglaublich großes Engagement, das oft weit über die eigenen Grenzen geht. Woher kommt das?

Norbert Hocke: Die Identifikation mit dem Beruf ist sehr hoch, weil man sich – wie bei allen sozialen Berufen – bisher noch sehr bewusst dafür entscheidet und die Bedeutung des Berufs von den Erzieherinnen und Erziehern selbst hoch eingeschätzt wird. Es nicht nur ein Beruf, sondern auch eine Berufung. Anders als in der traditionellen Schule kommt die ganzheitliche Arbeit der Pädagogik zum Tragen: nicht nur das Lehrende, sondern auch Zuhören und Umsorgen. Deshalb ist die Verbindung zu den Kindern meist sehr intensiv. Und auch wenn Erzieherinnen und Erzieher die gesellschaftliche Anerkennung gering einschätzen: die direkt Rückmeldung von Kindern und Eltern ist sehr positiv. Das trägt einen und gibt Kraft, dafür verzichtet man – zumindest bisher - auf ein besseres Gehalt. Aber das wird sich ändern. Erzieherinnen und Erzieher werden sich ihrer Stärke bewusst – das hat auch der Streik gezeigt, weil sie zunehmend gebraucht werden.

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