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Frühe technische Bildung

"Frühe technische Bildung" ist ein für die pädagogische Arbeit im frühkindlichen Bereich insgesamt lehrreiches und anregendes Buch mit ausführlicher theoretischer Fundierung einerseits und anschaulich präsentierten Projektbeispielen andererseits.

Auschnitt des Buchcovers; © Natur-Wissen schaffen

Der 233 Seiten umfassende Band versteht sich als Handreichung für Fachkräfte in Kitas, die die technische Bildung der Kinder im Sinne der Bildungspläne fördern wollen. Dabei verpflichten sich die Autorinnen und Autoren – wie auch in den anderen Bänden dieser Reihe – dem Anspruch, für die Umsetzung dieses Ziels konkrete Hinweise und Vorschläge zu geben, die erkennbar in ein fachlich fundiertes Konzept eingebettet sind. Hierzu hat ein Autorenteam um Wassilios E. Fthenakis wesentliche Strukturelemente herausgearbeitet und ausführlich dargestellt: Diese spannen einen Bogen von entwicklungspsychologischen Grundlagen über das Verständnis der frühen Bildung als Ko-Konstruktion bis hin zur konkreten Darstellung von technischen Inhaltsbereichen und Umsetzungsbeispielen in sieben Projekten. Das Buch ist reichhaltig bebildert, mit vielen farbig unterlegten Infokästen strukturiert und insgesamt optisch hervorragend gestaltet.

Nachschlagewerk, Strukturierungshilfe und Handreichung

Kapitel 1 - 3 sind als Nachschlagewerk geeignet

Das Buch geht allerdings über seine Funktion als Handreichung zu dem oben genannten Ziel weit hinaus: In seinen ersten drei Kapiteln erfüllt es eher den Anspruch eines Nachschlagewerks über grundlegende Fragen und Forschungsergebnisse zur frühen technischen Bildung: Im Wesentlichen wird in den beiden ersten Kapiteln offengelegt, welche Ziele durch eine frühe technische Bildung erreicht werden sollen und welchen allgemeinen Prinzipien die Autorinnen und Autoren folgen, um die technische Bildung zu fördern. Hierzu wird der allgemeine Ansatz der Ko-Konstruktion, bei dem sich die Fachkraft als Lernpartnerin der Kinder versteht, ausführlich dargelegt und gut begründet. Weiterhin wird dargelegt, in welchem inhaltlichen Rahmen sich frühe technische Bildung vollzieht: Hier wird der Bogen vom Erkunden von Technik in der eigenen Umwelt über Einblicke in Techniken anderer Kulturen bis hin zur Entwicklung motorischer und handwerklicher Fähigkeiten weit gespannt. Im dritten Kapitel erhalten die Leserinnen und Leser eine Einführung in die entwicklungspsychologischen Grundlagen der visuellen, motorischen und vor allem der kognitiven Entwicklung von Kindern.

Strukturierungshilfe der Alltagserfahrungen mit Technik

Das vierte Kapitel mit dem Titel "Bildungsziele im Bereich Technik" erfüllt überwiegend die Funktion einer Strukturierungshilfe der Alltagserfahrungen mit Technik: Die Autoren und Autorinnen zeigen Möglichkeiten der Herangehensweise auf:
an technische Geräte wie Herd, Toaster, Kühlschrank, Flaschenzug undsoweiter
an technische Verfahrensweisen, beispielsweise Bohren, Schneiden, Kleben sowie
an technische Werkzeuge.
Dabei verdeutlichen sie anhand ausgewählter Beispiele mögliche Erkenntnisziele. Weiterhin werden immer wieder Hinweise auf konkrete Projektdurchführungen gegeben, die im sechsten Kapitel ausführlich dargestellt werden.

Kritische Anmerkungen und Anregungen

Einige Sachinformationen weisen Fehler auf

Im vierten Kapitel geht es um Sachinformationen, also um die Darstellung technischer Grundkenntnisse zum Beispiel über Zahnräder, Hebel und so weiter. Hier finden sich leider einige fachliche Mängel bis hin zu Fehlern: Zum Beispiel berücksichtigt das Bild auf Seite 88 unten rechts nicht das Eigengewicht des Hebels, so dass die angegebenen Gewichtsverhältnisse nur im Idealfall eines gewichtslosen Hebels gelten. Weiterhin ist in dieser Zeichnung die suggerierte stabile Gleichgewichtssituation gar nicht möglich, da es sich um ein labiles Gleichgewicht handelt. Dies wird ebenso auf Seite 99 nicht beachtet: Ein Brett auf einem Rundholz kann grundsätzlich keine stabile Gleichgewichtssituation einnehmen, auch nicht, wenn man die "richtige" Anzahl an Holzklötzchen auf die Enden des Brettes stellt, da es sich stets um eine labile Konstruktion handelt. Auf Seite 101 wird behauptet, dass sich die Reibungskraft durch (höhere) Geschwindigkeit verringern lässt. Tatsache ist, dass Gleitreibungskräfte weitgehend unabhängig von der Geschwindigkeit sind, die höhere Geschwindigkeit ganz andere Ursachen hat. Auf Seite 108 wird bei der schiefen Ebene behauptet, dass die Kraftersparnis dadurch zustande kommt, dass ein Gegenstand nicht gehoben, sondern geschoben werden kann. Die Kraftersparnis hat mit der Art, wie der Gegenstand verschoben wird, überhaupt nichts zu tun, sondern damit, dass die schiefe Ebene eine zusätzliche Kraft auf den Gegenstand ausübt, die die Gewichtskraft zum Teil kompensiert. Die Liste ließe sich beim Flaschenzug oder auch beim Karussel fortsetzen, bei dem angeblich Fliehkräfte am Werk sind. Dass hier grundsätzlich die Trägheit wirkt und die Fliehkraft als Scheinkraft nur im mitrotierenden Bezugssystem auftritt, scheint dem Autorenteam nicht bekannt zu sein.

Aussagen kindgemäß und altersentsprechend formulieren

Nachteilig empfinde ich weiterhin, dass nicht klar erkennbar ist, für welche Altersgruppe die angegebenen Bildungsziele gedacht sind. Viele der genannten fachlichen Erkenntnisziele können frühestens(!) in der Grundschule in der angegebenen Form angestrebt werden. Für Kinder unter sechs Jahren müssten die Bildungsziele anders formuliert werden: Es muss dazu über Elementarisierungen nachgedacht und die wichtige Frage beantwortet werden, welche der fachlichen Strukturen und Aussagen für die Kinder in Kitas zugänglich sind, wie sie elementarisiert und kindgemäß formuliert werden können. Darüber hinaus muss überlegt werden, wie sie im Sinne der Ko-Konstruktion entdeckt und eingeführt werden können. Die Bildungsziele verlangen die Nutzung von physikalischen Fachbegriffen wie (Flieh-) Kraft oder physikalische Arbeit, denen Denkkonzepte zugrunde liegen, die Kindern unter sechs Jahren noch nicht vermittelt werden können. Eine Verwendung dieser Begriffe würde nur zu oberflächlichem Scheinwissen führen. Die Frage, welche Fachbegriffe bereits Kindern unter sechs Jahren vermittelt werden können und welche älteren Kindern vorbehalten sind, wird nicht diskutiert und meines Erachtens zu unreflektiert gehandhabt.

Die Projektmethode bietet viele Vorteile

Fünftes Kapitel: Das pädagogisch-didaktische Konzept

Im fünften Kapitel stellen die Autorinnen und Autoren ihr favorisiertes pädagogisch-didaktisches Konzept dar: die Projektmethode in Verbindung mit metakognitiven Komponenten. Bereits Kinder sollen ein Bewusstsein für ihre eigenen Lernprozesse entwickeln und ihre Kompetenzen zur Selbststeuerung stärken. Die Reflexion soll sich nicht nur am neuen Inhalt entfalten, sondern immer auch am Lernvorgang selbst. Das Autorenteam räumt zwar ein, dass jüngere Kinder überhaupt erst nach und nach ein Verständnis von Lernen entwickeln, das sich den elaborierten Vorstellungen der Pädagoginnen und Pädagogen annähert. Insofern wird sich im Kita-Bereich diese Metareflexion auf erste Schritte beschränken: "Was, wie und warum haben wir ... gelernt?" Diese Fragen haben kontrollierenden Charakter: Sie überprüfen und stärken die Verankerung des Erlebten im Langzeitgedächtnis und die richtige Einordnung des Erlebten in den größeren Sinnzusammenhang. Inwieweit hier bereits von metakognitiver Kompetenz gesprochen werden kann, sei dahin gestellt. Unbestritten ist, dass die Projektmethode viele Vorteile bietet, Kinder an den verschiedenen Gestaltungsprozessen, die bei einem Projektvorhaben anliegen, zu beteiligen und dadurch zu fördern. Daher erscheint es nur verständlich, wenn die Autorinnen und Autoren in diesem Kapitel auf die verschiedenen Stadien eines Projekts ausführlich eingehen und hierzu wesentliche Strukturelemente, die im Kita-Bereich bedeutsam sind, herausstellen und besprechen.

Handreichung für die Praxis

Viele überzeugende Projektideen verbinden Theorie und Praxis

Das umfangreiche sechste Kapitel kann als der wichtigste Teil dieses Werks und im engeren Sinne als Handreichung für die Praxis verstanden werden, da hier am Beispiel von sieben Projekten, die alle in Kitas erprobt wurden, authentisch erfahrbar wird, wie technische Bildung konkret und erfolgreich umgesetzt werden kann. Wertvoll erscheinen hier nicht nur viele überzeugende Ideen, sondern vor allem auch die vielfältigen Bezüge, die zwischen den konkreten Details des Projekts und den theoretischen Elementen hergestellt werden, die in den vorherigen Kapiteln dargestellt wurden. Dies geschieht darüber hinaus in optisch sehr ansprechender Form, da Infokästen, Übersichtstabellen und Ähnliches durchgängig eingesetzt werden, um die Fülle der Aspekte zu strukturieren und differenziert wahrnehmbar zu machen.

Gefahren technischer Geräte

Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass die Gefahren, die von technischen Geräten ausgehen, nicht immer angemessen thematisiert werden. Im Projektbeispiel 2: "Auseinandernehmen eines PC" gelingt dies in vorbildlicher Weise bei der Frage "Kann ein Bildschirm explodieren?", während im Projektbeispiel 3: "Handy, Telefon und Tastaturen" in keiner Weise auf die Gefahren von Mobilfunkstrahlung, insbesondere für Kinder, eingegangen wird. Hierzu liegen seit einigen Jahren vielfältige Hinweise und Warnungen vor, die etwa auf der Internetseite "Kinder und Mobilfunk" (siehe Zusatzinformationen rechte Spalte) nachgelesen werden können. In diesem Sinne muss dieses Projektbeispiel unbedingt überarbeitet werden, da Kinder sonst leichtfertig gesundheitlichen Risiken ausgesetzt werden.

Wie viel Fachvokabular ist nötig?

Auch die Einführung von Fachbegriffen erfolgt in einigen Fällen unreflektiert und meines Erachtens verfrüht: So führt im Projektbeispiel 4: "Technik auf dem Spielplatz" die Fachkraft den Begriff Fliehkraft ein, mit der Behauptung, dass sie für die Bewegung nach außen auf einem Karussel verantwortlich ist. Dies wurde bereits bei den Sachinformationen kritisch kommentiert, da es nicht den physikalisch zugrunde liegenden Sachverhalt trifft. Es ist die Frage, ob dieser Begriff hier überhaupt zum Einsatz kommen muss.

Querverbindungen zu anderen Bildungsbereichen

Als hilfreich empfinde ich die vielfältigen Hinweise auf integrative Elemente am Ende jedes Projekts, so dass erkennbar wird, dass technische Herangehensweisen in natürlicher Weise mit Aspekten zum Beispiel der Kunst und Ästhetik, Mathematik oder Sprache verbunden sind.

Projekte können auch in Teilen sinnvoll umgesetzt werden

Man könnte einwenden, dass die Projektmethode in Kitas nicht immer die Methode der besten Wahl sein kann, da sie zeitaufwändig ist und alle Betroffenen in einen intensiven Austausch einbindet, der nicht immer zu leisten ist. Kitas müssen heute vielfältigen Bildungsansprüchen nachkommen, so dass allein das Management dieser Vielfalt immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Die dargestellten Projekte lassen aber deutlich erkennen, dass sie auch in Teilen durchgeführt werden können, so dass nicht immer die ganze Projekteinheit umgesetzt werden muss.

Konkrete Handlungsoptionen für die Praxis

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das sechste Kapitel trotz aller kritischen Anmerkungen den wichtigsten Anspruch des Werkes einlöst, nämlich "die Lücke zwischen den häufig allgemein gehaltenen Anforderungen der Bildungspläne und konkreten Handlungsoptionen der Fachkräfte zu schließen."

Anregungen zu Vernetzung und Kooperationen

Abgerundet wird das Werk durch drei weitere, kürzere Kapitel, die Anregungen zur Vernetzung der Kita-Arbeit mit Eltern, Grundschulen und Gemeinwesen und Hinweise für den Umgang mit individuellen Unterschieden der Kinder geben. Eine Liste von Kooperationspartnern und –einrichtungen sowie ein Literaturverzeichnis schließen das Werk ab.

Kurzinformationen

Titel"Frühe technische Bildung", Band 4 aus der Reihe "Natur - Wissen schaffen"
AutorenteamWassilios E. Fthenakis, Astrid Wendell, Andreas Eitel, Marike Daut, Annette Schmitt
VerlagBildungsverlag EINS
Erscheinungsjahr2009, 1. Auflage
ISBN978-3-427-50289-6
Preis24,90 €

Fazit

Der Band "Frühe technische Bildung" kommt vielen Bedürfnissen entgegen: Er hilft allen, die sich schnell einen Überblick über die theoretischen Grundlagen der technischen Bildung im frühen Kindesalter verschaffen wollen; er zeigt den Stand der Forschung auf und fasst ihn gut strukturiert zusammen und er gibt konkrete Hinweise, wie technische Bildungsprozesse erfolgreich und theoretisch fundiert in Kitas initiiert werden können. Insofern kann man ihn mit Gewinn als Nachschlagewerk, Strukturierungshilfe und mit den genannten Einschränkungen als Handreichung für die Praxis nutzen. Das Werk kann daher allen Kindertageseinrichtungen zur Anschaffung empfohlen werden, wenn sie die fachlichen Korrekturen und vorgeschlagenen Ergänzungen beachten.

Information zum Autor

Dr. Klaus Scheler
ist Diplom-Physiker und Physikdidaktiker. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Physik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und betreut seit Jahren unter anderem die Ausbildung der Grundschulstudierenden im Sachunterricht. In Zusammenarbeit mit dem Klaus-Tschira-Kompetenzzentrum für frühe naturwissenschaftliche Bildung, das als Projekt der Klaus Tschira Stiftung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg angesiedelt ist ("Forscherstation", siehe Zusatzinformationen rechte Spalte), beschäftigt er sich seit einigen Jahren mit der Förderung von Kindern und ihren Bildungsprozessen im naturwissenschaftlichen Bereich.