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Frühe naturwissenschaftliche Bildung

"Frühe naturwissenschaftliche Bildung" ist ein für die pädagogische Arbeit im frühkindlichen Bereich insgesamt lehrreiches und anregendes Buch mit ausführlicher theoretischer Fundierung einerseits und anschaulich präsentierten Projektbeispielen andererseits.

Auschnitt des Buchcovers; © Natur-Wissen schaffen

Der 274 Seiten umfassende Band versteht sich als Handreichung für Fachkräfte in Kitas, die die naturwissenschaftliche Bildung der Kinder im Sinne der Bildungspläne fördern wollen. Dabei verpflichten sich die Autorinnen und Autoren - wie auch in den anderen Bänden dieser Reihe – dem Anspruch, für die Umsetzung dieses Ziels konkrete Hinweise und Vorschläge zu geben, die erkennbar in ein fachlich fundiertes Konzept eingebettet sind. Hierzu hat ein Autorenteam um Wassilios E. Fthenakis wesentliche Strukturelemente herausgearbeitet und ausführlich dargestellt: Diese spannen einen Bogen von entwicklungspsychologischen Grundlagen über das Verständnis der frühen Bildung als Ko-Konstruktion bis hin zur konkreten Darstellung von naturwissenschaftlichen Inhaltsbereichen und Umsetzungsbeispielen in acht Projekten. Das Buch ist reichhaltig bebildert, mit vielen farbig unterlegten Infokästen strukturiert und insgesamt optisch hervorragend gestaltet.

Nachschlagewerk, Strukturierungshilfe und Handreichung

Kapitel 1 - 3 sind als Nachschlagewerk geeignet

Das Buch geht allerdings über seine Funktion als Handreichung zu dem oben genannten Ziel weit hinaus: In seinen ersten drei Kapiteln erfüllt es eher den Anspruch eines Nachschlagewerks über grundlegende Fragen und Forschungsergebnisse zur frühen naturwissenschaftlichen Bildung: Im Wesentlichen wird in den beiden ersten Kapiteln offengelegt, welche Ziele durch eine frühe naturwissenschaftliche Bildung erreicht werden sollen und welchen allgemeinen Prinzipien das Autorenteam folgt, um die naturwissenschaftliche Bildung zu fördern. Hierzu wird der allgemeine Ansatz der Ko-Konstruktion, bei dem sich die Fachkraft als Lernpartnerin der Kinder versteht, ausführlich dargelegt und gut begründet. Weiterhin wird dargelegt, in welcher Weise Kinder naturwissenschaftliche Phänomene erkunden können, um sich eine grundlegende naturwissenschaftliche Bildung zu erschließen. Im dritten Kapitel erhalten die Leserinnen und Leser eine Einführung in die entwicklungspsychologischen Grundlagen der visuellen, motorischen und vor allem der kognitiven Entwicklung von Kindern.

Strukturierungshilfe bietet das vierte Kapitel

Das vierte Kapitel mit dem Titel "Bildungsziele im Bereich Naturwissenschaften" erfüllt in erster Linie die Funktion einer Strukturierungshilfe der vielfältigen Inhalte: Zunächst werden sieben Kompetenzen für wissenschaftliches Denken und Handeln genannt und erläutert. Hier fehlen meines Erachtens zwei wichtige grundlegende Kompetenzen: Regelmäßigkeiten identifizieren und Verbindungen beziehungsweise Zusammenhänge erkennen. Diese Kompetenzen spielen unter anderem bei der Begriffsbildung eine bedeutende Rolle, worauf auch auf Seite 51 "Was sind Begriffe?" bereits hingewiesen wird und worauf auch Erkenntnisse der Neurobiologie des Lernens verweisen (vergleiche Manfred Spitzer (2002): Lernen; siehe Zusatzinformationen in der rechten Spalte).

Elf naturwissenschaftliche Bereiche werden behandelt

In den folgenden Unterkapiteln werden elf naturwissenschaftliche Inhaltsbereiche, darunter Wasser, Luft, Feuer, Weltraum undsoweiter, unter Verknüpfung mit verschiedenen Erfahrungsbereichen vorgestellt, die in Kitas aufgegriffen und im Einzelnen ausgearbeitet werden können. Alle Unterkapitel folgen dabei dem gleichen Schema: Zunächst werden nach einem Überblick über mögliche Themen wesentliche Grunderfahrungen von Kindern zum jeweiligen Inhaltsbereich zusammengestellt. Dann werden fachliche Grundkenntnisse mit entsprechenden Fachbegriffen formuliert. Schließlich wird auf Zusammenhänge zwischen zugehörigen Alltagserfahrungen und übergeordneten naturwissenschaftlichen Konzepten hingewiesen. Als Vorschlag für eine Umsetzung findet man Beispielfragen, die mit den Kindern durchgegangen werden können. Leider findet man nur knappe Hinweise auf ausgewählte, erprobte Untersuchungsmöglichkeiten für Kinder, die allerdings durch Angaben auf weiterführende Experimentierliteratur ergänzt werden. Hinweise auf immer wieder eingestreute Verbindungen zu anderen Inhaltsbereichen in diesem Buch oder zu anderen Bildungsbereichen wie Mathematik oder Technik runden den jeweiligen Abschnitt ab.

Kritische Anmerkungen und Anregungen

Eher ältere Kinder im Blick

Als Nachteil empfinde ich, dass nicht klar erkennbar ist, für welche Altersgruppe die angegebenen Bildungsziele gedacht sind. Dieser Abschnitt könnte so auch als Strukturierungshilfe für die Grundschule geschrieben sein, da viele Fachbegriffe und Erkenntnisziele frühestens in der Grundschule angestrebt werden können und die Ausführungen nur rudimentär auf die spezifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kinder in Kitas eingehen: So haben zum Beispiel Kinder unter sechs Jahren noch keinen dynamischen Lichtbegriff, der aber in Abschnitt 4.2.7 bei der Formulierung der Grundkenntnisse vorausgesetzt wird. Die genannten Bildungsziele erwecken eher den Eindruck, dass ältere Kinder im Blick sind.

Der wissenschaftliche Energiebegriff ist für Kinder schwer verständlich

Befremdlich erscheint mir vor allem, dass die Kinder mit den wissenschaftlichen Energiebegriffen konfrontiert werden sollen, obwohl die Autorinnen und Autoren selber sagen, dass es sich bei der Energie um einen abstrakten Begriff handelt, der für Kinder schwer zu verstehen ist. Warum wird nicht auf diesen Begriff in der Bildungsarbeit von Kitas verzichtet, zumal er für die Beschreibung und Erklärung der genannten Phänomene nicht erforderlich ist?

Welche Fachbegriffe sind für welches Alter geeignet?

Die grundsätzliche Frage, welche Fachbegriffe und Zusammenhänge bereits Kindern unter sechs Jahren vermittelt werden können und welche Fachbegriffe und Zusammenhänge älteren Kindern vorbehalten sind, wird nicht diskutiert und meines Erachtens unreflektiert gehandhabt. Dazu muss zum Beispiel die wichtige Frage beantwortet werden, in welcher Form die fachlichen Begriffe und Aussagen für die Kinder in Kitas zu elementarisieren und zu formulieren sind und wie sie im Sinne der Ko-Konstruktion entdeckt und eingeführt werden können: Wann genau und in welcher Weise wird die Fachkraft ihre Rolle als Ko-Konstrukteurin wahrnehmen müssen? Inwieweit muss sie hierzu geschult werden? In wichtigen Aspekten, die bei der konkreten Umsetzung eine Rolle spielen, gibt das Werk in diesem Kapitel wenig Hilfe. Es überlässt vielmehr die konkrete Feinarbeit, auf die es aber wesentlich ankommt, den Fachkräften vor Ort.

Die Projektmethode bietet viele Vorteile

Fünftes Kapitel: Das pädagogisch-didaktische Konzept

Im fünften Kapitel stellen die Autorinnen und Autoren ihr favorisiertes pädagogisch-didaktisches Konzept dar: die Projektmethode in Verbindung mit metakognitiven Komponenten. Bereits Kinder sollen ein Bewusstsein für ihre eigenen Lernprozesse entwickeln und ihre Kompetenzen zur Selbststeuerung stärken. Die Reflexion soll sich nicht nur am neuen Inhalt entfalten, sondern immer auch am Lernvorgang selbst. Das Autorenteam räumt zwar ein, dass jüngere Kinder überhaupt erst nach und nach ein Verständnis von Lernen entwickeln, das den elaborierten Vorstellungen der Pädagoginnen und Pädagogen entspricht. Insofern wird sich im Kita-Bereich diese Metareflexion auf erste Schritte beschränken: "Was, wie und warum haben wir ... gelernt?". Diese Fragen haben kontrollierenden Charakter: Sie überprüfen und stärken die Verankerung des Erlebten im Langzeitgedächtnis und die richtige Einordnung des Erlebten in den größeren Sinnzusammenhang. Inwieweit hier bereits von metakognitiver Kompetenz gesprochen werden kann, sei dahin gestellt. Unbestritten ist, dass die Projektmethode viele Vorteile bietet, Kinder an den verschiedenen Gestaltungsprozessen, die bei einem Projektvorhaben anliegen, zu beteiligen und dadurch zu fördern. Daher erscheint es nur verständlich, wenn die Autorinnen und Autoren in diesem Kapitel auf die verschiedenen Stadien eines Projekts ausführlich eingehen und hierzu wesentliche Strukturelemente, die im Kita-Bereich bedeutsam sind, herausstellen und besprechen.

Handreichung für die Praxis

Naturwissenschaftliche Bildung wird konkret und erfolgreich umgesetzt

Das umfangreiche sechste Kapitel kann als der wichtigste Teil dieses Werks und im engeren Sinne als Handreichung für die Praxis verstanden werden, da hier am Beispiel von acht Projekten, die alle in Kitas erprobt wurden, authentisch erfahrbar wird, wie naturwissenschaftliche Bildung konkret und erfolgreich umgesetzt werden kann. Wertvoll erscheinen hier nicht nur die überzeugenden Ideen, sondern vor allem auch die vielfältigen Bezüge, die zwischen den konkreten Details des Projekts und den theoretischen Elementen hergestellt werden, die in den vorigen Kapiteln dargestellt wurden. Die Projektbeispiele zeigen aber auch, dass auf die Verwendung von Fachbegriffen, wie sie im vierten Kapitel bei der Formulierung der Bildungsziele immer wieder nahe gelegt wird, fast vollständig verzichtet werden kann. Die Darstellung der Projektbeispiele geschieht in optisch sehr ansprechender Form, da Infokästen, Übersichtstabellen und Ähnliches durchgängig eingesetzt werden, um die Fülle der Aspekte zu strukturieren und differenziert wahrnehmbar zu machen. Als hilfreich empfinde ich auch die vielfältigen Hinweise auf integrative Elemente am Ende jedes Projekts, so dass erkennbar wird, dass naturwissenschaftliche Herangehensweisen in natürlicher Weise mit Aspekten zum Beispiel der Kunst und Ästhetik, Mathematik oder Sprache verbunden sind.

Projekte können auch in Teilen sinnvoll umgesetzt werden

Man könnte einwenden, dass die Projektmethode in Kitas nicht immer die Methode der besten Wahl sein kann, da sie zeitaufwändig ist und alle Betroffenen in einen intensiven Austausch einbindet, der nicht immer zu leisten ist. Kitas müssen heute vielfältigen Bildungsansprüchen nachkommen, so dass allein das Management dieser Vielfalt immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Die dargestellten Projekte lassen aber deutlich erkennen, dass sie auch in Teilen verwendet werden können, so dass nicht immer die ganze Projekteinheit umgesetzt werden muss.

Konkrete Handlungsoptionen für die Praxis

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das sechste Kapitel den wichtigsten Anspruch des Werkes einlöst, nämlich "die Lücke zwischen den häufig allgemein gehaltenen Anforderungen der Bildungspläne und konkreten Handlungsoptionen der Fachkräfte zu schließen."

Anregungen zu Vernetzung und Kooperationen

Abgerundet wird das Werk durch drei weitere, kürzere Kapitel, die Anregungen zur Vernetzung der Kita-Arbeit mit Eltern, Grundschulen und Gemeinwesen und Hinweise für den Umgang mit individuellen Unterschieden der Kinder geben. Eine Liste von Kooperationspartnern und –einrichtungen sowie ein Literaturverzeichnis schließen das Werk ab.

Kurzinformationen

Titel"Frühe naturwissenschaftliche Bildung", Band 3 aus der Reihe "Natur - Wissen schaffen"
AutorenteamWassilios E. Fthenakis, Annette Schmitt, Marike Daut, Andreas Eitel, Astrid Wendell
VerlagBildungsverlag EINS
Erscheinungsjahr2009, 1. Auflage
ISBN978-3-427-50287-6
Preis24,90 €

Fazit

Der Band "Frühe naturwissenschaftliche Bildung" kommt vielen Bedürfnissen entgegen: Er hilft allen, die sich schnell einen Überblick über die theoretischen Grundlagen der naturwissenschaftlichen Bildung im frühen Kindesalter verschaffen wollen; er zeigt den Stand der Forschung auf und fasst ihn gut strukturiert zusammen. Und er gibt konkrete Hinweise, wie naturwissenschaftliche Bildungsprozesse erfolgreich und theoretisch fundiert in Kitas initiiert werden können. Insofern kann man ihn mit den genannten Einschränkungen als Nachschlagewerk, Strukturierungshilfe und vor allem als Handreichung für die Praxis nutzen. Das Werk kann daher nur allen Kindertageseinrichtungen zur Anschaffung empfohlen werden.

Information zum Autor

Dr. Klaus Scheler
ist Diplom-Physiker und Physikdidaktiker. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Physik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und betreut seit Jahren unter anderem die Ausbildung der Grundschulstudierenden im Sachunterricht. In Zusammenarbeit mit dem Klaus-Tschira-Kompetenzzentrum für frühe naturwissenschaftliche Bildung, das als Projekt der Klaus Tschira Stiftung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg angesiedelt ist ("Forscherstation", siehe Zusatzinformationen rechte Spalte), beschäftigt er sich seit einigen Jahren mit der Förderung von Kindern und ihren Bildungsprozessen im naturwissenschaftlichen Bereich.