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Mehrsprachigkeit in Familie und Kita fördern

Der Hamburger Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Dr. h. c. Jürgen Meisel berät seit über zwanzig Jahren die Eltern mehrsprachiger Kinder. Im Interview berichtet er, wie Eltern seiner Erfahrung nach bestmöglich in die Sprachförderung ihrer Kinder einbezogen werden können.

Prof. Jürgen Meisel, © privat

BIBER: Schon Mitte der 80er Jahre haben Sie in einer Zeitschrift Elternfragen zum Thema Spracherwerb beantwortet. Und seit vielen Jahren bieten Sie an der Universität Hamburg eine Online-Beratung für Eltern mehrsprachiger Kinder an. Mit welchen Fragen wenden sich die Eltern an Sie?

Jürgen Meisel: Die meisten Eltern, die sich an mich wenden, kommen aus binationalen Familien, in denen die beiden Elternteile eine unterschiedliche Muttersprache mitbringen. Viele dieser Eltern würden ihre Kinder gerne mehrsprachig erziehen, sind aber durch Gerüchte verunsichert worden: Was, wenn die Kinder die beiden Sprachen vermischen? Stimmt es, dass mehrsprachige Kinder sich langsamer entwickeln? Und bis zu welchem Alter können Kinder noch gut eine zweite oder dritte Sprache lernen? Daneben gibt es Migrantenfamilien, in denen beide Eltern eine andere Sprache als Deutsch, also zum Beispiel Türkisch oder Griechisch, sprechen. Für diese Eltern stellt sich die Frage, wie sie ihre Kinder beim Erlernen der deutschen Sprache unterstützen können.

BIBER: Welche Rolle spielen Eltern beim Spracherwerb ihrer Kinder?

Jürgen Meisel: Die Sprachwissenschaft ist sich einig, dass jeder Mensch seine Muttersprache vollständig lernt - unabhängig von seiner Intelligenz oder dem Engagement seiner Eltern. Diese Fähigkeit ist uns einfach mitgegeben. Zudem haben die letzten dreißig Jahre der Forschung gezeigt, dass wir eine Anlage zur Mehrsprachigkeit haben. Wenn wir ab der Geburt mit mehreren Sprachen konfrontiert sind, lernen wir sie quasi automatisch – also genauso leicht oder schwer, wie wir eine einzige Muttersprache lernen. Es kann sein, dass mehrsprachige Kinder für den Spracherwerb im Schnitt relativ lange brauchen, aber sie entwickeln sich ohne besondere Unterstützung völlig normal, das heißt im gleichen Zeitrahmen, den man bei einsprachigen Kindern beobachtet. Und Studien haben gezeigt, dass bilinguale Kinder schon im Alter von ein bis zwei Jahren von selbst zwischen ihren beiden Sprachen unterscheiden.

Unabhängig davon können die Eltern ihnen den Spracherwerb aber erleichtern: Empfohlen wird die Regel: "eine Sprache – eine Person". Wenn die Familie in Deutschland lebt und ein Elternteil Deutsch spricht, ist die andere Sprache für das Kind rein quantitativ möglicherweise etwas geringer präsent. Das kann man versuchen auszugleichen: Indem man im Urlaub in ein Land fährt, in dem die Sprache gesprochen wird, Musik in der entsprechenden Sprache hört oder sich Filme im Original ansieht. Wenn mehrsprachige Kinder vornehmlich in einer monolingualen Umgebung aufwachsen, sollte man ihnen zudem Kontakt zu anderen mehrsprachigen Kindern verschaffen. Das erhöht ihre Akzeptanz für die zweite Sprache – denn Kinder möchten wie andere Kinder sein. Schwieriger ist die Situation von Migrantenfamilien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird. Denn ein Kind kann natürlich nur eine Sprache lernen, die es im Alltag auch hört. Eltern aus Migrantenfamilien empfehle ich deshalb sehr dringend, ihren Kindern so früh wie möglich Kontakt zur deutschen Sprache zu verschaffen – ein deutschsprachiger Kindergarten ist dafür die beste Voraussetzung.

BIBER: Worauf sollten pädagogische Fachkräfte, also Erzieherinnen und Erzieher achten, wenn Sie mit Eltern über das Thema "sprachliche Bildung" allgemein und speziell über den Erwerb von Mehrsprachigkeit sprechen?

Jürgen Meisel: Allgemeingültige Regeln gibt es da nicht, weil unterschiedliche Eltern sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema haben. Einige Eltern haben große Angst davor, ihre Kinder durch eine zweisprachige Erziehung zu überfordern, andere möchten ihre Kinder gleich viersprachig aufwachsen lassen. Unabhängig davon stellt es für die meisten aber ein sehr emotionales Thema dar, zu dem jeder eine sehr dezidierte Meinung hat. Es gibt keinen Grund, Eltern zu einer mehrsprachigen Erziehung zu drängen. Aber sie sollten die Möglichkeit haben, professionelle Antworten auf ihre Fragen zu bekommen und bestehende Ängste abzubauen. Gleichzeitig darf man natürlich nicht vergessen, die Kinder ernst zu nehmen: Für sie ist Sprache nicht nur ein Kommunikationsinstrument, sondern ein Teil der Person. Deshalb sollte man kein Kind zwingen, eine Sprache zu sprechen, die es ablehnt. Aber es spricht nichts dagegen, ein Kind beispielsweise weiterhin auf Französisch anzusprechen, auch wenn es dann auf Deutsch antwortet. Ob es das zunächst will oder nicht - so wird es die französische Sprache quasi passiv lernen.

BIBER: Im Kindergartenalltag leiden Elterngespräche nicht selten darunter, dass Eltern und Erzieherinnen oder Erzieher keine gemeinsame Sprache sprechen oder inhaltliche Konflikte auftauchen. Im Extremfall lehnt ein Elternteil sogar offen ab, dass sein Kind die deutsche Sprache lernt. Wie würden Sie mit solchen schwierigeren Situationen umgehen?

Jürgen Meisel: Bei rein sprachlichen Problemen sollte ein Dolmetscher dazu geholt werden. Oft hilft schon ein so genannter Laiendolmetscher weiter – also zum Beispiel das Kind selbst, ein anderes Elternteil oder ein mitgebrachter Freund. Mit Schwierigkeiten inhaltlicher Art würde ich relativ offensiv umgehen. Eltern haben oft eine sehr dezidierte Meinung zum Thema Spracherwerb, die sich auf Erfahrungen aus ihrem Umfeld stützt. Diese Erfahrungen müssen geachtet werden. Gleichzeitig sollte man den Eltern aber auch die Vorteile anderer Sichtweisen darstellen. Als Experte habe ich statt der Einzelerfahrungen einen Überblick über verschiedene Szenarien, die ich miteinander vergleichen kann, um generelle Schlüsse daraus zu ziehen. Dadurch kann ich auch einschätzen, ob bestimmte Einzelerfahrungen etwa typisch sind oder eher nicht. Wichtig ist schließlich, dass wir über Mehrsprachigkeit sprechen. Die Debatten über den Spracherwerb bei Kindern aus Migrantenfamilien werden häufig so geführt, als müsse man sich zwischen zwei Sprachen entscheiden. Natürlich brauchen Kinder die deutsche Sprache, wenn sie in diesem Land leben. Aber dadurch muss die andere Sprache nicht beeinträchtigt werden und deshalb müssen sich die Leute auch nicht assimilieren. Skeptische Eltern sollten nicht gezwungen, sondern mit Argumenten überzeugt werden, dass Mehrsprachigkeit für ihre Kinder nur ein Gewinn sein kann.

 
 

*Das Interview führte Janna Degener im Auftrag von BIBER - Netzwerk frühkindliche Bildung.